Kommentar:
Am 10. Mai 1953 sagte Erich Kästner, ein von den Nazis geschmähter Schriftsteller aus Sachsen, in seiner Rede anlässlich des Gedenkens am 20. Jahrestag der Bücherverbrennung durch die Faschisten, folgende Worte:
"Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat."
Die Ereignisse der letzten Tage in Chemnitz haben gezeigt, dass sich nicht einmal 75 Jahre nachdem Deutschland die Welt in den zweiten Weltkrieg gestürzt hat, wieder eine Lawine anschickt, unsere Gesellschaft zu überrollen. Ein Blick zurück zeigt, mit welcher rasenden Geschwindigkeit sich die Geschehnisse entwickelt haben:
In der Nacht vom Samstag zum Sonntag wurde ein junger, weltoffener Mann mit einem Messer bei einem Streit tödlich verletzt. Noch bevor es offizielle Angaben gab, war für viele klar, dass er einer Frau zu Hilfe kam, die von Männern aus dem Ausland belästigt worden sei und seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlt hat. Selbst das in Chemnitz etablierte Onlinemedium Tag24 publizierte am Sonntag früh unbestätigte Vermutungen[1]. Mit diesen Spekulationen mobilisierten am Sonntag rechte Gruppierungen und gewaltbereite Hooligans im Internet. Aus Angst vor Ausschreitungen dieser Gruppen wurde das Stadtfest abgebrochen. Am frühen Sonntagabend sammelten sich knapp 1000 gewaltbereite Rechte am Marx-Monument, zogen durch die Innenstadt und machten Jagd auf Menschen, die ihnen nicht Deutsch genug aussahen. Die völlig überforderte Polizei sah dem Spuk nahezu tatenlos zu.
Am Montag wurde bekannt, dass die mutmaßlichen Täter der Nacht zuvor, zwei Männer mit Migrationshintergrund, bereits in Haft sind. Über den Auslöser des Streits ist nach wie vor nichts Belastbares bekannt. Dennoch wurde im Internet mit falschen Behauptungen und Hetze die Stimmung weiter angeheizt. Am Montagabend fand eine aus dem Umfeld der rechtspopulistischen "Bürgerbewegung PRO CHEMNITZ" als Gedenkkundgebung angemeldete Demonstration statt, die sich letztendlich als menschenfeindliche Machtdemonstration von 8000 teils gewaltbereiten Rechten darstellte. Dementgegen standen ca. 1500 Gegendemonstranten, die einem Aufruf der LINKEN gefolgt waren. Im Laufe des Abends kam es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen, hauptsächlich aus dem Lager der Nazidemonstration. Die noch immer viel zu schwachen Polizeikräfte setzten dem kaum etwas entgegen.
In den vergangenen Tagen hat sich gezeigt, dass unser so sicher geglaubter Rechtsstaat versagt hat. Innerhalb der letzten Jahrzehnte haben es neonazistische Gruppierungen geschafft in Sachsen sturmfeste Strukturen auszubilden. Es ist schon fast Normalität geworden, dass auf den Straßen menschenfeindliche, ja sogar offen volksverhetzende Parolen skandiert werden, ohne dass die Polizei nennenswert einschreitet. Rechtes Gedankengut ist tief in der Mitte unserer Gesellschaft verwurzelt. Und die maßgeblich von der CDU getragene Landesregierung tut seit fast 30 Jahren vor allem eines: Beschwichtigen, Verleugnen und Relativieren. Knapp Vier Jahre PEGIDA lösten bei den Christdemokraten lediglich Sorge um das Image Sachsens aus. Selbst jetzt, da der rechte Mob offen zur Selbstjustiz aufruft und nahezu ungehindert im Herzen einer sächsischen Großstadt auf Menschenjagd geht, kommen vom Generalsekretär der sächsischen Union nur allgemeine Phrasen statt eines wirklichen Widerspruches. Nein, das waren keine verunsicherten Bürger, die mit ein paar einzelnen Radikalen auf der Straße standen, das waren knapp 10000 Nazis. Jemand, der einer Demonstration hinterher läuft, auf der "Ausländer raus!" und "Deutschland den Deutschen" gebrüllt wird, auf der offen der Hitlergruß gezeigt wird, der tut das nicht aus Versehen oder aus Verunsicherung und Sorge, der tut das mit voller Absicht und das macht ihn auch zum Nazi!
Wer jetzt immer noch der Meinung ist, die negative Presse und das braune Image Sachsens seien ungerechtfertigt und würden nur von einer Minderheit verursacht, der hat nicht begriffen, dass sich unsere Gesellschaft im Stechschritt auf einen neuen Faschismus hinbewegt. Es sind nicht nur eine Hand voll radikale Stimmungsmacher, die neonazistisches Gedankengut verbreiten und unterstützen, es ist ein erschreckend großer Anteil der Menschen in Sachsen, die das tun. Nach den neusten Prognosen könnte nach der Landtagswahl in einem Jahr jeder vierte Abgeordnete einer rechtspopulistischen Partei angehören. Es ist überfällig, dem entgegen zu treten und rechtem Gedankengut laut zu widersprechen, wann und wo es auch zu Tage tritt! Denn Menschenfeindlichkeit entgegenzutreten ist nicht linksextrem, sondern eine Selbstverständlichkeit!