QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis von Marc-Uwe Kling ist nicht etwa eine zweite, überarbeitete Version des 2017 erschienen Spiegel-Bestsellers „QualityLand“, sondern eine Fortsetzung von diesem, die am 12. Oktober 2020 erschienen ist. Wieder werden wir in die dystopische Zukunftswelt von Peter Arbeitsloser entführt. Das Buch führt die Geschichte aus dem ersten Band fort, welcher zur besseren Unterscheidung im Nachhinein den Untertitel „Peters Problem“ bekommen hat. Diesen gelesen zu haben ist nicht Notwendig, da alles für die Handlung relevante im Buch selbst erklärt wird, nicht aber die Welt an sich. Wer aus dem ersten Band nicht weiß, weshalb die Figuren überhaupt so seltsame Namen haben wie „Peter Arbeitsloser“, „Martyn Vorstand“ oder „Sandra Admin“, der wird es diesmal anders als im Vorgänger nicht einfach ins Gesicht gesagt bekommen, kann es sich aber nach einiger Zeit denken. Allerdings ist auch erwähnenswert, dass dadurch, dass die Geschichte genau da fortgeführt wird, wo sie aufgehört hat, das Ende des ersten Bandes komplett offengelegt wird.
Wie auch im Vorgänger folgt die Handlung immer abwechselnd zwischen den Kapiteln vier verschiedenen Figuren, die wir schon aus dem Vorgänger kennen: Peter Arbeitsloser, Kiki Unbekannt, Martyn Vorstand und Aisha Ärztin. Die haben alle so ihre eigenen Problemchen nach den Ereignissen des ersten Buches, die sie in ihren jeweiligen Kapiteln zu lösen versuchen. Dabei beeinflussen sich die Handlungsstränge, wie das in jedem Medium, in dem es die sogenannte „Zopf-Dramaturgie“ gibt, üblich ist, ab und zu gegenseitig.
»Ich verstehe«, sagt Henryk nur, als das Video zu Ende ist.
»Ich gehe stark davon aus, dass die relevanten Leute davon wissen. Doch für den Fall, dass nicht, werde ich für dich und dein Video einen Kontakt zur Regierung herstellen.«
Und später:
Aisha hat schlechte Laune. Sie muss sich mit einem Trottel treffen, der ihr ein Video zeigen will, und zwar nur, weil Henryk Ingenieur sich das aus einer Laune heraus wünscht.
Mir fiel beim Lesen auf, dass die „Lehre von der G‘schicht“ jetzt deutlich offener kommuniziert wird. Ich erinnere mich daran, im ersten Teil von einem Hormonsteuerchip gelesen zu haben, der kleinen Kindern implantiert wird, damit die Eltern sie per App zum Einschlafen bringen können. Das Buch tat damals nicht viel mehr als die Existenz dieses Chips zu erwähnen, zusammen mit einem Mädchen, die „Nein Papa, bitte nicht, ich will nicht wieder schlafen!“ sagt, bevor sie von ihrem Vater eingeschläfert wird. Aber allein dieser kurze Absatz verschaffte mir dann den Kühlschrankhorror: Ich vermute mal, dass ein solcher Chip, wenn er mit so jungen Jahren implantiert wird, mit dem Gehirn verwächst. Wird irgendwann eine Lücke erkannt, wird diese Person, zusammen mit hunderttausenden anderen Leuten, ihr Leben lang mit dem Problem konfrontiert sein, dass jeder sie jederzeit einschlafen lassen könnte. Die Implikationen davon möchte ich mir gar nicht ausmalen.
Nun ist das Ganze ein bisschen… offensiver. Auffällig oft fangen Charaktere an, in einen Lehrer-Modus überzugehen, in dem sie einen Monolog halten, in dem sich - so vermute ich es zumindest – die Ansichten des Autors über die Welt wiederspiegeln.
»Jetzt fangen Sie nicht auch noch mit dem Grundeinkommen an«, sagt Tony. »Dann würde doch gar keiner mehr arbeiten. Der Mensch ist ein Homo oeconomicus, Aisha! Er will für sich den maximalen Nutzen bei minimalem Aufwand. Wenn man den Menschen einfach Geld schenkt, wenn man ihnen quasi die Erlaubnis gibt, Parasiten zu sein, dann werden sie zu Parasiten.«
»Das glaube ich nicht! Diese beknackte These vom Menschen als rationalem Nutzenmaximierer ist doch längst widerlegt. Würden Sie denn aufhören zu arbeiten, wenn Sie nicht mehr müssten?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Und das sagt fast jeder von sich. Es sind immer nur die anderen, von denen man glaubt, dass sie sofort aufhören würden zu arbeiten. Ich bin mir sicher, selbst die Leute mit den sinnlosen Jobs würden nicht aufhören zu arbeiten. Sie würden sich allerdings sinnvolle Beschäftigungen suchen können. John kam zu dem Ergebnis, dass wir alles, was wir gerade leisten, ohne Probleme mit einer Arbeitszeit von drei Stunden pro Tag hinbekommen könnten. Lustigerweise genau der Wert, den Keynes vor über hundert Jahren als Arbeitszeit der Zukunft prognostiziert hat. «
Das klingt jetzt negativer als ich es meine. Beim Lesen dieser Passagen packt mich nur nicht mehr der Kühlschrankhorror, sondern oftmals fasse ich den Gedanken „Hm, so habe ich noch nie darüber nachgedacht, das klingt eigentlich ganz logisch.“, und lese weiter. Mich persönlich stören „Marc-Uwe erklärt mir die Welt“-Passagen ganz und gar nicht, ich könnte mir nur durchaus vorstellen, dass sich jemand, dem die vermittelten Ansichten nicht gefallen, sehr an ihnen stören könnte. Sieht man das als Kritikpunkt, habe ich tatsächlich nur noch einen zweiten: Ich würde gerne viel mehr über diese Welt erfahren. Alle Hauptpersonen sind, wie das für Hauptpersonen üblich ist, keine normalen Menschen. Daher kommt auch, dass wir leider nie sehen, wie der Durschnittsmensch in QualityLand lebt, wie Schulen hier aussehen, ob Freizeitgestaltung wirklich nur noch aus VR-Brillen besteht und ob sich Essen mit Drohnen liefern zu lassen mit dem heutigen „heute mal `ne Pizza bestellen“ vergleichen lässt, oder ob es einfach mittlerweile normal ist, immer Fertigessen geliefert zu bekommen, und man eher „heute mal selber kocht“. Die Welt würde solche kleinen Einblicke in das Leben eines Durchschnittsbürgers durchaus hergeben. Eine letzte Sache gibt es noch, aus der ich einfach nicht schlau werde. Das Buch ist… düster – in mehrerlei Hinsicht. Früher gab es die „helle“ und die „dunkle“ Variante, die sich dadurch unterschieden, ob Werbung und Nachrichten zwischen den Kapiteln eher optimistisch oder eher pessimistisch sind. Das Buch jetzt hat nur eine Variante. Sein Umschlag ist schwarz. Werbung und Nachrichten sind ausschließlich Weiß auf Schwarz statt Schwarz auf Weiß gedruckt, und spätestens beim Lesen der Texte auf den schwarzen Seiten wird einem klar, dass man in dieser Welt lieber nicht leben möchte.
Ob der Autor damit etwas sagen will? Ich weiß es nicht. Was ich nur sagen will: Wer bisher nur die Känguru-Chroniken von Marc-Uwe-Kling kennt, sollte vorher wissen, dass dieses Buch nicht nur lustig und nicht nur friedlich ist.
„QualityLand 2.0: Kikis Geheimnis“ ist am 18. Oktober 2020 im Ullstein-Verlag erschienen und kann für 19,00 € in allen gut sortierten Buchläden, zum Beispiel der Buchhandlung Universitas am Unicampus, erworben werden.