"Unser Gehirn - durchschnittlich 1,4 Kilogramm schwer, etwa drei Fäuste groß, runzlig wie eine Walnuss, rosa und von der Konsistenz eines Wackelpuddings - ist das komplexeste Organ im ganzen bekannten Universum." [S.11]
Und wir alle wissen: Je komplexer ein System ist, umso störanfälliger ist es, und umso vielfältiger sind die Ergebnisse, wenn etwas im Detail abweicht oder schlicht anders läuft als normal.
In “Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf” versammelt Monika Niehaus, wie schon in seinem Vorgänger, "Die Frau, die ihren Mann für einen Doppelgänger hielt", verschiedene neuropsychiatrische Erkrankungen, die alle eines gemeinsam haben: nämlich, dass eben etwas anders läuft in der komplexen Maschinerie des Gehirns, als beim Durchschnittsmenschen.
Dreißig ausgewählte Syndrome fügen sich in alphabetischer Reihenfolge zu einem spannenden Konglomerat zusammen und geben Einblicke in Irritierendes, Verstörendes, Sonderbares. Hinzu kommt eine wichtige Erkenntnis:
"[...] das, was wir als "gesund" oder "krank" bezeichnen, [ist] eher eine gesellschaftliche Übereinkunft [...] als eine wissenschaftliche Erkenntnis: Sieht eine Gesellschaft Sklaverei als normal und gottgegeben an, dann ist jemand, der diesen Konsens nicht akzeptiert, eben "verrückt".
Der Übergang zwischen gesundem und krankhaftem Verhalten ist stets fließend und eine Grenzziehung ist immer schwierig, wenn nicht gar unmöglich." [S.12]
So wird die Frage, wie zwischen geistig gesund und psychologisch auffällig unterschieden wird, immer wieder aufgegriffen. Ein erfundenes Syndrom aus der Zeit der US-amerikanischen Sklaverei hat so Eingang ins Buch gefunden: Die so genannte Drapetomanie - der Drang davonzulaufen - wird durch die Autorin als das entlarvt, das sie war: Eine Erfindung einer pervertierten Psychiatrie, die unmenschliche Umstände und deren Aufrechterhaltung scheinbar medizinisch begründete.
Niehaus bietet auch einen Exkurs zu kulturgebundenen Syndromen, also solchen, die nur innerhalb bestimmter kultureller Umgebungen beobachtet werden. Neben der Beschreibung der Syndrome und Fallbeispielen bietet die Autorin immer auch einen Blick auf die kulturelle Verarbeitung des Syndroms, denn viele der im Buch vorgestellten Syndrome fanden Eingang in Literatur, Film und Bühne, in die Malerei und die Musik.
Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Lektüre ist außerdem diese: Nicht alle psychischen Syndrome sind psychische Störungen und müssen behandelt werden. Manche sind harmlos, aber beunruhigend für die Patienten, wie das Exploding-Head-Syndrom. Andere sind schlicht ungewöhnlich, wie das Hyperthymestische Syndrom, das eine außergewöhnliche biografische Gedächtnisleistung mit sich bringt.
Die Kapitel von “Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf” können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Am Ende findet sich, neben der erwähnten kulturellen Verarbeitung des besprochenen Syndroms, immer auch der eine oder andere Querverweis auf andere, ähnliche Syndrome im Buch oder seinem Vorgänger.
Abgerundet wird das Werk durch sowohl ein Namens- als auch ein Sachregister.
Besonders interessant fand ich persönlich unter anderen die Synästhesie, das Alien-Abduction-Syndrom, das Dorian-Gray-Syndrom, das Hikikomori- und das bereits genannte Hyperthymestische Syndrom. Verstörend fand ich das Lesch-Nyhan-Syndrom; beängstigend ist das Locked-in-Syndrom, und der titelgebende Waschbär gehört zum Nobel-Syndrom, das gleichermaßen faszinierend wie irritierend wirkt.
Monika Niehaus' “Der Nobelpreisträger, der im Wald einen höflichen Waschbär traf. Wenn das Gehirn verrückt spielt: 30 seltene und ungewöhnliche psychische Syndrome” erschien 2019 im Hirzel Verlag.