Es handelt sich bei dem Stück um eine Interpretation von Dostojewskis gleichnamiger fantastischer Erzählung, die im Jahre 1877 entstand. Um 19:30 Uhr haben alle auf ihren Sitzen platzgenommen, nur jede zweite Reihe ist besetzt, drei Sitzplätze bis zur nächsten Person sind freizuhalten, die Maske muss aufbehalten werden bis wirklich alle sitzen. Die Hygienevorschriften werden hier genaustens eingehalten, Menschen, die ihre Maske zu früh absetzen, freundlich aber bestimmt auf die Regelungen hingewiesen.
Das Bühnenbild wirkt reduziert, klar, kalt. Im Hintergrund ist ein großes, von Jalousien verdunkeltes Fenster zu sehen. Es handelt sich um eine Bildprojektion, die sich im Laufe des Stückes auf eindrückliche Art verändern wird. Zu Beginn des Stücks betreten zwei Männer im Anzug die Bühne. Einer von ihnen beginnt eine mystische und befremdliche Melodie auf einem Musikinstrument zu spielen, das einem großen Xylophon ähnelt. Es handelt sich um Bernd Sikora, der seit dieser Spielzeit der neue Kapellmeister am Schauspiel Chemnitz ist. Er wird das ganze Stück mit seinen Klängen begleiten. Der andere Mann (gespielt von Dirk Glodde) stellt sich als lächerlicher Mensch vor. Er spricht das Publikum direkt an, lacht über sich selbst und das Publikum lacht verhalten mit. Je verrückter das Lachen des lächerlichen Menschen wird, desto weniger Erwiderung findet es im Publikum. Der lächerliche Mensch beginnt seine Erzählung. Noch tiefer als sein Wissen über die eigene Wunderlichkeit, säße die tiefe Überzeugung, dass in dieser Welt alles egal sei. Dies habe dazu geführt, dass er alle Menschen einfach ignoriere: „Kopf nach unten. Nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen.“ In einem gruselig fröhlichen Tonfall und mit einem verstörend seligen Lächeln auf den Lippen schildert die Hauptrolle ihre absolute Gefühllosigkeit. Dieser Geisteszustand habe den lächerlichen Menschen dazu bewogen, den eigenen Selbstmord zu planen. Eigentlich sei dafür auch schon alles bereit, einzig der richtige Moment habe noch auf sich warten lassen. Doch einen Abend zuvor, als er draußen auf der Straße unterwegs gewesen war, habe er beim Anblick eines kleinen Sterns die Eingebung bekommen, dass der besondere Augenblick endlich gekommen sei. Entschlossen macht er sich auf den Weg nach Hause, als ihn ein kleines, verzweifelt schreiendes Mädchen (gespielt von Lisanne Hirzel) am Arm packt und ihn dazu bringen will ihr und ihrer sterbenden Mutter zu helfen. Diese Begegnung löst ein völlig vergessenes Gefühl in ihm aus: Mitleid. Entsetzt und überfordert brüllt er sie an zu gehen.
Zuhause angekommen denkt der lächerliche Mensch über das Mädchen und seine Gefühle nach. Eigentlich müsse ihm doch alles egal sein? Unbemerkt schläft er ein und träumt davon wie er sich endlich erschießt. Doch anstatt zu sterben, fliegt er im Traum, begleitet von einem sonderbaren Fantasiewesen (gespielt von Wolfgang Adam) zu einem fremden Planeten, einer zweiten Erde. Die Fahrt durchs Weltall wird auf geschickte Weise durch Bild- und Videoprojektionen, die Abbildungen von Sternen und Planeten auf mehreren Ebenen der Bühne wiedergeben, dargestellt. Dadurch entsteht ein fantastisches Bühnenbild, welches aussieht, als würden die Darsteller*innen mitten in einem Sternenmeer stehen. Zusammen mit den Klängen des Kapellmeisters entsteht ein science-fiction-artiges audiovisuelles Erlebnis, welches das Publikum in seinen Bann zieht. Auf der zweiten Erde angekommen, trifft der lächerliche Mensch auf die Frauen, Männer und Kinder, die dort – anders als auf seiner Erde – in völligem Einklang mit der Natur und miteinander leben. Es sind reine und nackte Wesen ohne Verständnis von Gier, Scham und Angst.
Dargestellt wird dieses Volk von Darsteller*innen des Schauspielensembles und der Statisterie, auch Kinder und sogar Babys sind in der Rolle der friedlichen Erdenbewohner*innen auf der Bühne zu sehen. Eine solche Menge an Menschen auf der überschaubaren Bühne des Schauspielhauses und das während einer Pandemie? Nicht wirklich, denn das Erdenvolk wird per Video auf jene Projektionsflächen übertragen, die eben noch den Sternenhimmel wiedergaben. Diese Videoaufnahmen sind in einer Kooperation mit der Chemnitzer Filmwerkstatt e.V. entstanden. Sie stellen eine kreative Lösung dar, um den Abstand zwischen den Darsteller*innen zu gewährleisten. In diesem Stück fügt sich dieses Medium unglaublich passend und eindrucksvoll ein, sodass das Format nichts von einer Notlösung hat.
Im Hintergrund sieht man die Menschen – mal einzeln, mal in der Gruppe – ihre Gesichter sind gelassen, friedlich, die Bildtemperatur ist warm. Der lächerliche Mensch beschreibt seine neuen Mitmenschen als absolut liebevoll und gut. Er ist erstaunt und entzückt von ihnen und bewundert ihre Lebensweise. Doch langsam verändert sich seine Erzählung. Die anderen Menschen würden durch seine Anwesenheit verdorben, sie beginnen damit zu Lügen und lernen schnell Eifersucht und Gier kennen. Schließlich machen sich in rasantem Tempo alle möglichen düsteren Gefühle und Gesellschaftsformen bei den Menschen breit. Sie werden grausam, führen Kriege und stellen Wissenschaft und Religion über das Glück. Während der lächerliche Mensch dies entsetzt und traurig berichtet, verändern sich die Videosequenzen. Sie werden dunkler und kälter. Eine dunkle Flüssigkeit überströmt die nackten Körper der Menschen, es könnte Blut oder Matsch sein. Schließlich sinken sie zu Boden und winden sich in ihrem Elend. Zugleich wird die Musik des Klanginstruments lauter und schneller, Lisanne Hirzel, die zu Beginn des Stücks das kleine Mädchen gespielt hatte, spielt nun ein geisterhaftes Traumwesen, welches die Szenen mit dramatischem wortlosen Klagegesang begleitet. Die Videos, die Erzählung des Hauptdarstellers, der Gesang und die Klänge werden immer eindringlicher, intensiver, trauriger. Und gerade als es einem die Tränen in die Augen treibt, ist alles vorbei. Die Bewohner*innen der fremden Erde sind verschwunden. An ihrer Stelle ist nun wieder das Fenster zu sehen. Doch kommen einem die Jalousien nun offener vor und der Himmel draußen scheint ein bisschen sonniger und schöner als zuvor zu sein.
Der lächerliche Mensch wurde von dem, was da geschehen ist, eben so wenig kalt gelassen wie das Publikum. Er berichtet, wieder etwas zu fühlen: Liebe für die Menschen. Er hat nun trotz des furchtbaren Verfalls seiner zweiten Erde etwas erkannt: Im Menschen gibt es einen guten Kern. Am Ende gelobt er das kleine Mädchen zu finden und ihm zu helfen.
Das Publikum ist begeistert und schenkt dem Ensemble minutenlangen Applaus. Am Ende bleibt ein Gefühl von Ergriffenheit und Hoffnung zurück. Und beim Verlassen des Theaters gibt es nur einen Gedanken: Wie krass war das denn bitte?!
Weitere Termine für „Traum eines lächerlichen Menschen“:
Samstag, 24. Oktober 2020
Freitag, 06. November 2020
Samstag, 14. November 2020
Dienstag, 24. November 2020
Jeweils um 19:30 Uhr auf der Großen Bühne des Schauspielhauses.